Dienstag, 10. April 2007

Revierübernahme …

Bahnfahren macht ja immer wieder Spaß. Selten hat man die Gelegenheit, mit so verschieden Menschen auf so engem Raum zusammen gequetscht sein zu können. Dabei verhalten sich viele Reisende wie Platzhirsche in der Brunft. Im Fahrstuhl kann man ein ähnlich soziales Verhalten beobachten, aber diese Reise dauert ja meist nicht lange genug, um die ganze Bandbreite der Revierverteidigungsstrategien ausschöpfen zu können. Im Zug funktioniert das besser.

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich gerne zusammenrotten, weil man angeblich im Rudel bessere Überlebenschancen hat. Das Rudelleben mit all seinen Kompromissen an das Individuum ist mir eher suspekt. Deshalb bevorzuge ich auf Reisen mit der Bahn Großraumwagen und dort die Einzelplätze, um mit dem Blick aus dem Fenster jeglichem Kontakt mit anderen Spezies aus dem Weg gehen zu können. Vorgestern war ich überglücklich, als ich einen solchen Platz in dem ansonsten ausgebuchten Zug gefunden hatte. Dieser war zwar „ggf. reserviert“, aber das Risiko, dass mir mein Revier streitig gemacht werden würde, ging ich gerne ein, um nur ja nicht meinen reservierten Sitz in der Mitte eines Abteils einnehmen zu müssen, hoffnungslos eingepfercht zwischen Menschen, die sich anderen gegenüber gerne öffnen und dabei Speisen zu sich nehmen, die sowohl das Auge als auch die Nase foltern.

Lange wähnte ich mich in Sicherheit, bis der Frankfurter Flughafen unendlich viele sonnensüchtige Kurzurlauber in unser Verkehrsmittel spukte, unter denen sich auch jemand befand, der seinen Anspruch gerade auf meinen Platz einforderte, ohne Rücksicht auf mein ohnehin geschwächtes, da weibliches, Dasein. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine Gepäckmauern abzubauen und weiter ins Ungewisse zu ziehen. Wenn schon eingesperrt mit essenden Menschen in einem kleinen Raum, dann sollen sie wenigstens dafür bezahlen, dachte ich mir und stieg über die am Boden Sitzenden Richtung Speisewagen mit freundlichem Service.

Je beliebter das zu verteidigende Revier, desto rabiater die Methoden der Eindringlinge. Verbote oder vermeintliche Grenzen steigern die Aggressivität der mit Testosteron gedopten Unruhestifter noch mehr - ein im Frühjahr häufig zu beobachtendes Phänomen. So durfte ich Zeuge eines Kampfes zwischen dem rechtmäßigen Platzhirschen (höflicher Kellner) und seinem Widersacher (rüpelhafter Gast) werden, der einen mächtigen Bauch als Beweis seiner Stärke vor sich her schob.

Kaum hatte dieser den Hinweis auf einen reservierten Platz entdeckt, schnappte er sich das Schildchen, zerriss es demonstrativ und machte sich genau an diesem Tisch mit ausgestreckten Armen auf den umliegenden Lehnen und vorgestrecktem Bauch sehr breit. Die höfliche Auskunft des freundlichen Kellners, dass er diesen Platz für eine gehbehinderte Dame freigehalten hätte und es doch noch genügend andere freie Sitzgelegenheiten gäbe, wurde von dem unwirschen Eindringling mit lautstarker Maßregelung des Obers, der Berufung auf das Bahngesetz und die sich daraus für ihn selbst ergebenden Rechte geahndet.

Alle Gäste des Speisewagens sahen ihn an und dachten dasselbe, was dem Schreihals wohl nicht verborgen blieb. Kollektives Mitleid ob seines offensichtlich verkümmerten Fortpflanzungorgans war das letzte, was er in dieser Situation gebrauchen konnte, deshalb versuchte der Arme sich durch noch höhere Lautstärke den ersehnten Respekt zu erbrüllen. Mit hochrotem Kopf verlangte er nach dem Zugchef und nach Wasser.

Mein Gegenüber, der gleichzeitig mit dem Brüllaffen den Speisewagen betreten und mich mit einem strahlendem Lächeln gefragt hatte, ob er sich zu mir setzen dürfe, schüttelte jetzt nur noch verständnislos den Kopf. Gemeinsame Abneigung schweißt zusammen und so war sogar ich bereit, mit fremden Menschen zu kommunizieren. Zum Glück konnte der Mann interessante Geschichten aus fernen Ländern erzählen und es war eine Wohltat, erleben zu dürfen, dass es auch andere Strategien gibt, ein Revier zu erobern. Bei dieser freundlichen Übernahme gab es keine Gegenwehr. In kürzester Zeit hatte er meine Mauern niedergerissen. Ein Lächeln und die richtigen Worte können Festungen sprengen.

Aber das merkte ich erst, als ich ihm ein wenig wehmütig nachsah, wie er in der Menge auf dem Bahnsteig seiner Stadt verschwand. Doch dann entdeckte ich zwischen all den zu Staub zerbröselten Steinen meiner Bastion ein Stück Papier mit seiner Telefonnummer. Falls du mal mein Revier streifst, stand darunter …
2101

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Aktuelle Beiträge

Früüühling ...
Desideria - 2015-03-17 19:21
Schön, etwas von Dir...
Schön, etwas von Dir zu lesen... ich fange auch endlich...
virtualmono - 2014-05-02 13:44
vollmond
Deine Empfindungen und Beschreibungen kommen mir am...
yvonne (Gast) - 2014-04-15 11:53
Probier's doch einfach...
Probier's doch einfach mit Schreiben. Wirst schon sehen,...
Hoffende - 2014-03-20 21:52
Ich bin fürs Schreiben...
Paulaline - 2014-03-20 21:29
Wieder für ein Jahr bezahlt...
... mal sehen, ob ich dann hier auch wieder schreibe...
Desideria - 2014-03-17 21:11
Auf ein Neues ...
Desideria - 2014-01-06 21:19
Haha! ;-)
Haha! ;-)
deprifrei-leben - 2013-12-21 16:15
wenigstens einmal zu...
wenigstens einmal zu Ende geschaut ... immerhin.
Desideria - 2013-12-21 02:34
Insomnia ...
Nicht schlafen können und zur Ablenkung Hannibal Lecter...
Desideria - 2013-12-21 01:16

Status

Online seit 7394 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2021-07-15 02:03



??????????????
Ach?!?!
Alltagsfragen
Das Leben in vollen Zügen
DATUM
Der Unterschied
Echt jetzt ?!
einfach schoen
Essen und Trinken
Fettnaepfchen
flickrhamburg
Fragen
Frauen etc.
FreitagContent
HHAASSSS!!!!!
in Buechern leben
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren