Alle Jahre wieder überkommt mich so ein Gefühl, als müsste ich mein Leben von außen betrachten, objektiv sozusagen, soweit das überhaupt möglich ist. Meist passiert das Anfang Herbst und kollidiert mit meinem offiziellen Älterwerden. Dann sinniere ich über das vergangene Jahr und versuche es zu bewerten, pro und contra abzuwägen. Dieses Mal muss ich nicht das Schicksal anflehen: „Bitte gib mir schnell ein neues Jahr, das alte ist kaputt.“
Trotzdem hätte ich da noch einige Verbesserungsvorschläge. Das mit den sozialen Kontakten und den von ihnen verursachten hormonellen Schwankungen zum Beispiel: Muss das denn unbedingt in dieser Achterbahnmanier vonstatten gehen? Das schlägt einem doch auf den Magen. Na gut, ich gebe zu: auch ich ziehe Schwarz oder Weiß dem eintönigen Grau vor. So gesehen, war das also ganz richtig so.
Dass viele meiner sozialen Kontakte in anderen Städten oder Ländern wohnen, finde ich übrigens gar nicht so schlimm. Das ist immerhin Grund genug, die heimische Couch zu verlassen und den Rest der Welt zu besuchen. Reisen bildet ja bekanntlich – unter anderem auch Freundschaften. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch für Billigflieger – die Natur möge mir verzeihen, aber ich konnte nicht immer das Leben in vollen Zügen genießen (obschon ich dadurch tiefe Einblicke in menschliche Abgründe ergattern durfte und jetzt bahn.comfort-Mitgleid bin).
Den Rest des Jahres konnte ich meine Bücher- und Bildersucht voll ausleben, das war wirklich wunderbar und dreimal habe ich einen Freitag, den 13. überlebt…
Was will ich eigentlich mehr?
Desideria - 2007-10-12 11:36
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"Aber finden Sie nicht", beharre ich, "dass es besser ist, nur eine kurze Zeit sehr glücklich zu sein, auch wenn man dieses Glück verliert, als sein ganzes Leben nur einigermaßen über die Runden zu bringen?"
Mr DeTamble mustert mich. Er nimmt die Hände vom Gesicht und starrt vor sich hin. Dann sagt er: "Genau das habe ich mich oft gefragt. Glauben Sie das?"
(Audrey Niffenegger - Die Frau des Zeitreisenden)
Desideria - 2007-10-02 08:00
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Seit langem habe ich mal wieder ein Wochenende allein verbracht und mich so richtig in meinem Kummer vergraben. Jedem, der mich anrief, habe ich die Dramaqueen präsentiert. Jammern auf hohem Niveau. Bis zu dem einen Anruf, den ich am Wochenende erledigen musste, obwohl ich ja eigentlich mit niemanden sprechen wollte. Mein Onkel hatte Geburtstag. 92 Jahre ist er am Sonntag geworden. Er muss starke Medikamente nehmen, die manchmal schlimme Halluzinationen bei ihm auslösen, aber die Schmerzen wären ohne das Morphium nicht zu ertragen. Vor 3 Wochen habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Bei der Begrüßung hatte ich das Gefühl, lose Knochen in einem Pullover zu umarmen, aber seine Freude, mich zu sehen, ließ dieses hilflose Gefühl langsam wieder schwinden. Wir saßen am Tisch gegenüber und er erzählte mir mit leiser Stimme, dass er sofort diese Medikamente absetzen würde, wenn er Gewissheit hätte, dass er dann einfach sterben würde, anstatt dass nur die entsetzlichen Schmerzen wiederkämen. Da habe ich ihm fast verziehen, dass er sich weigerte, mich weiterhin auf seinem Fahrrad mitzunehmen, da ich die polizeilich erlaubte Altersgrenze von Beifahrern von 6 Jahren überschritten hatte. Damals. Jetzt hielt er meine Hände in den seinen. „Ich würde mich erschießen, wenn ich nicht Angst hätte, vor lauter Nervosität nur mein Knie zu treffen.“ Dann lachte er, sah mir in die Augen und sagte: „Es tut so gut, zu wissen, dass man geliebt wird.“ Nach diesem Anruf habe ich dann aufgehört zu jammern …
Desideria - 2007-10-01 15:13
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